3.4. Wachstum ohne Leben: Kristalle

Mineralienbörsen sind gut besuchte Veranstaltungen. Die Schönheit und Vielfalt der präsentierten Kristallformen üben eine besondere Anziehung auf die Besucher aus. Manchem stellen sich dabei die Fragen, woraus Mineralien aufgebaut sind und auf welche Weise ihre Kristalle gewachsen sind.

Aufbau der Kristalle. Minerale wie Gips und Steinsalz im Keuper, Pyrit (Katzengold) im Schwarzjura oder Kalkspat als Spaltenfüllung im weißen Jurakalk der Alb bilden oft beachtliche Kristalle. Sie sind aus Ionen, das sind elektrisch geladene Atome, aufgebaut. Solche Kristalle bezeichnet man als Ionenkristalle. Positiv geladen sind Metall-Ionen wie die des Natriums im Salz, des Calciums im Gips und Kalkspat sowie Eisen-Ionen im Pyrit. Als negative Ionen finden sich in den genannten Mineralien Chlorid-Ionen im Salz, Sulfat-Ionen im Gips, Sulfid-Ionen im Pyrit und Carbonat-Ionen im Kalkspat. Die elektrisch entgegengesetzt geladenen Ionen ziehen sich gegenseitig an und sind deshalb im Kristall abwechselnd angeordnet.  Aus den Größenverhältnissen der beteiligten Ionen ergibt sich die Grundform des Kristalls. Chlorid-Ionen sind etwa doppelt so groß wie Natrium-Ionen. Jedes Natrium-Ion ist folglich von sechs Chlorid-Ionen umgeben. Daraus ergibt sich als Grundform des Salzkristalls ein Würfel.

Außer Ionenkristallen gibt es noch solche, die aus regelmäßig angeordneten elektrisch neutralen Atomen aufgebaut sind. Massen-Anziehungskräfte zwischen den Atomen und gemeinsam genutzte Elektronen sind für den Zusammenhalt solcher Atomkristalle bestimmend. So besteht z.B. Diamant aus Kohlenstoffatomen. Auch Schwefel, in Spalten von Vulkanen anzutreffen, bildet Atomkristalle. Kleine Schwefelkristalle kann man herstellen, indem man ein Streichholz unter einem Objektträger anzündet. Unter dem Mikroskop erkennt man in dem gelblichen Sublimat tafel- und nadelförmige Schwefelkristalle . In Kristallen wiederholt sich die jeweilige Grundform viele Millionen Male. Man spricht dann von einem Kristallgitter. Dabei kann die Grundform auf verschiedene Weise, z.B. übereinander oder treppenförmig versetzt angeordnet sein. Verschiedene Grundformen wie Würfel, Sechseck, Tetraeder, schiefes Prisma u.a. sowie die unterschiedlichen Möglichkeiten ihrer Anordnung erklären die Vielfalt der Kristallformen. Je nach Anordnung seiner Atome kann z.B. Kohlenstoff kristallisiert als Diamant oder als Graphit vorkommen.

Wachstum von Kristallen. Man kann bisweilen Kristallbildungen von Salz am Meeresstrand oder Ausblühungen von Salpeter an feuchtem Mauerwerk beobachten. 

Salpeterlösung (Kaliumnitrat) auf einem Objektträger unter dem Mikroskop eintrocknen zu lassen, bietet eine eindrucksvolle Möglichkeit, in polarisiertem Licht bunte Kristallnadeln wie aus dem Nichts hervorschießen zu sehen. 

Meist jedoch wachsen Kristalle in der Natur in langen Zeiträumen, oft in Jahrtausenden. Sie scheiden sich in Hohlräumen der Gesteine aus magmatischen Gesteinsschmelzen, aus vulkanischen Gasen oder aus gesättigten Minerallösungen allmählich ab. Je länger und ungestörter die Zeit des Wachstums ist, umso größer sind die Kristalle. Relativ schnelle Kristallbildung, Raummangel und die Konkurrenz von anderen Mineralen führen zu Aggregaten aus vielen kleinen Kristallen.

Man kann den Wachstumsvorgang an selbst gezüchteten Kristallen verfolgen, am einfachsten an der Kristallabscheidung aus einer gesättigten Kochsalzlösung. Man stellt dazu eine klare Kochsalzlösung an einen warmen ruhigen Ort und wartet, bis sich infolge Verdunstung am Rand des Gefäßes eine weiße Salzkruste bildet. In diese gesättigte Lösung hängt man nun an einem dünnen Faden ein Kochsalzkristall. Im Verlauf einer Woche kann daraus ein ansehlicher Salzwürfel heranwachsen.

Gibt man einen Tropfen gesättigte Salzlösung auf einen Objektträger und betrachtet ihn unter dem Mikroskop, so kann man die Abscheidung der Salzkristalle direkt verfolgen. In diesem Fall erfolgt mangels Zufuhr von Salz gegen Ende des Kristallisierens Skelettwachstum um das zentrale Kristall.

Erstaunlich ist bei solchen Beobachtungen die Regelmäßigkeit der Kristallabscheidung. Sie beginnt meist an einem bereits vorhandenen festen Kristallisationskeim, in obigem Fall der hineingehängte würfelförmige Kochsalz-Impfkristall. An dessen Flächen werden neue Kristallflächen angefügt. Ein neue Kristallfläche beginnt ihr Wachstum erst, wenn die vorige vollständig mit Ionen aufgefüllt wurde. Dieser Umstand lässt sich dadurch erklären, dass die elektrischen Anziehungskräfte zwischen den kristallbildenenden Natrium- und Chlorid-Ionen einerseits relativ groß sind, andrerseits jedoch nur auf sehr kurze atomare Entfernungen wirken. Das erkennt man daran, dass ein zerbrochener Kristall durch exaktes Zusammendrücken der Teile dennoch nicht mehr hält. Beim Vorgang des Kristallwachstums zieht ein bereits abgelagertes Natrium-Ion ein nahe befindliches Chlorid-Ion aus der Lösung an, dieses wiederum ein Natrium-Ion usw. So wird Zeile um Zeile einer Kristallfläche aufgebaut. Danach folgt der Aufbau der nächsten Kristallfläche. Berechnungen haben ergeben, dass z.B. auf einer Würfelfläche von 1 cm2 etwa 4x1014 Ionen eingeordnet  werden. So ist es verständlich, dass bei steigender Geschwindigkeit des Kristallwachstums Störungen auftreten. So werden Ionen an falschen stellen oder sogar Fremdteilchen eingebaut. Auch können viele Kristallisationskeime gleichzeitig auftreten. Nur bei extrem langsamen Wachstum und unter günstigsten Bedingungen wie Reinheit der Lösung und Temperaturkonstanz erhält man Idealkristalle . In Realkristallen  findet man infolge solcher Wachstumsstörungen Lücken, Risse, mosaikartigen Aufbau oder mangels ausreichender Stoffzufuhr sogar skelettartige Formen wie bei Schneekristallen.

Was ist eigentlich der Grund dafür, dass Stoffteilchen wie Atome oder Ionen ihre freie Beweglichkeit aus Gasen, Schmelzen oder Lösungen aufgeben, zugunsten eines starr ins Kristallgitter eingebundenen Zustandes? In Gasen können sich die Stoffteilchen völlig frei bewegen. Dementsprechend groß ist ihre Bewegungsenergie und die dadurch bedingten Abstände zwischen den Teilchen. Auf solche Entfernungen können keine Anziehungskräfte wirken, weshalb sich Gase frei im Raum verteilen. Beim Übergang aus dem gasförmigen in den flüssigen und dann in den festen Zustand verringert sich der Teilchenabstand und die Anziehungskräfte werden zunehmend wirksam. Die überschüssige Bewegungsenergie der Teilchen wird dabei als Wärme abgegeben. Der umgekehrte Vorgang, z.B. das Schmelzen eines Stoffes erfordert dafür Energiezufuhr von außen. Energetisch betrachtet ist also der feste Zustand besonders stabil. Je dichter die Atome oder Ionen dabei gepackt sind, desto stärker sind die Anziehungskräfte und umso energetisch sparsamer und stabiler ist der Teilchenverbund. Dies ist besonders im geordneten, also kristallisierten Zustand der Fall. Wird eine Schmelze langsam abgekühlt, so bleibt sie auch unterhalb ihrer Erstarrungstemperatur noch flüssig. Kristallisiert die unterkühlte Schmelze, z.B. durch Hinzufügen eines Impfkristalls, so steigt ihre Temperatur wieder an. Beim Kristallisieren wird also Bewegungsenergie der Teilchen als Kristallisationswärme abgegeben. Hier besteht auch der wesentliche Unterschied zwischen Kristallwachstum und biologischen Wachstumsvorgängen. Während das Kristallwachstum mit Energieeinsparung verbunden ist, wachsen Lebewesen nur unter Zufuhr von Energie: Licht für grüne Pflanzen und energiereiche Nährstoffe für Tiere und Menschen. Kristalle stellen einen ziemlich stabilen Zustand, Lebewesen einen instabilen Zustand der Organisation der Materie dar. Energetische Zusammenhänge der Kristallbildung kann man auf eindrucksvolle Weise beim Abbinden von Baugips feststellen: Das Gips-Wasser-Gemisch wird beim Erhärten richtig heiß. Ursache dafür ist das Einbinden von Kristallwasser in die wachsenden Gipskristalle.

Zur mikroskopischen Beobachtung der Kristallbildung streut man in einen Wassertropfen auf dem Objektträger eine kleine Prise Gipspulver, legt ein Deckglas auf und dichtet dessen Rand z.B. mit Nagellack ab. Schon nach einigen Minuten wachsen Gipskristalle als charakteristische Schwalbenschwanz-Zwillinge. 

Übrigens ist die Annahme irrig, dass Schreibkreide aus Kreidestaub, also aus Kalk ist: Sie besteht aus fein gemahlenem Gips. Wer’s nicht glaubt, kann den Kalktest, Aufschäumen mit Säure, an Schreibkreide ausprobieren. 

Interessant ist auch der Einfluss äußerer Faktoren wie Druck, Temperatur oder Fremdstoffe auf die Kristallbildung. Kocht man beispielsweise eine gesättigte Calciumhydrogencarbonatlösung ab, so erhält man durch Entweichen von Kohlendioxid, wie auch aus hartem Wasser nadelförmige Aragonitkristalle, meist büschelförmig angeordnet. Sie sind es, die Wäsche beim Waschvorgang unangenehm hart und kratzend für die Haut machen. Gibt man in die gleiche Lösung z.B. Fadenalgen und stellt sie ans Licht, so entstehen durch photosynthetischen Entzug von Kohlendioxid schöne rhombische Calcitkristalle.  Derselbe Stoff, nämlich Calciumcarbonat kristallisiert entweder als Aragonit oder als Calcit.

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